Es ist nichts als die Wirklichkeit: Ein mit Steinplatten ausgelegter Boden, eine nüchterne Wand,
ein Rauchmelder und zwei Neonröhren an der Sichtbetondecke, die noch die Anordnung der Schal-
Bretter zeigt, die Schmalseite einer Mauer, das grüne Fluchtwegschild über einer nicht sichtbaren,
aber zu vermutenden Tür, eine Matratze, die diese Tür verstellt, den Fluchtweg abschneidet.

Niemand käme auf die Idee, diese Fotografie ein schönes Bild zu nennen. Manch eine und manch
einer wird sich fragen, was in aller Welt denn so besonders sein soll an diesem Blick auf eine trost-
lose Raumsituation, eine unspektakuläre Architektur, die nichts als ihren Zweck kennt und auf
die Form ganz offensichtlich keinen besonderen Wert legt.

Dieses Bild lenkt unsere Aufmerksamkeit auf etwas, was wir sonst, ohne dass wir es auf diese Weise
gezeigt bekämen, kaum wahrnehmen würden. Weil wir dieses Stück Architektur – ein Reststück eher,
ein vernachlässigter Winkel – in diesem Bild vor Augen haben, sehen wir genauer hin. Wir stellen
Fragen. Und weil diese Matratze entgegen jeder Vernunft und Funktion die Fluchttür zu- stellt, machen
wir uns Gedanken. Soll die Matratze etwa wild Flüchtende vor dem Aufprall auf der Tür – offenbar
eine Glastür – schützen? Aber dann ist die Flucht am Ende, der Ausweg versperrt. Deutet die Matratze
am Ende, indem sie den Fluchtweg verstellt, auf eine Fluchtmöglichkeit hin, die Hierbleiben heisst?
Die Matratze ist so breit wie die Tür. Sie ist breiter, als es für eine einzelne Schläferin, einen einzelnen
Schläfer nötig ist. Ist miteinander schlafen ein Fluchtweg? Vielleicht denken Sie jetzt an Scheinehen –
und schon macht dieses Bild eine politische Aussage.

Gewiss gibt es noch andere Fragen, die dieses Bild stellt, andere Erzählungen, die es provoziert.
So einfach, wie es zunächst erschien, ist diese Bild, das stellvertretend für die Arbeit des Künstlerpaars
Peter Spillmann und Susanne Schär steht, nicht. Mit minimalen und subtilen Eingriffen verändern die
beiden Künstler, was wir die Wirklichkeit nennen. Sie machen uns darauf aufmerksam, dass wir am
Wesentlichen oft vorbeischauen. Und sie zeigen uns, dass Sehen mehr bedeutet, als schon
zu wissen, dass Kunst Fragen zu stellen bedeutet. Kunst, das sehen wir an diesem hier wirkungsvoll
inszenierten Bild, setzt sich mit der Wirklichkeit auseinander. Sie überschreitet das Wirkliche und
macht besonders, was uns als Normalität erscheint. ( ... )

 

URS BUGMANN

Ausschnitt aus Laudatio

Werk- und Förderbeiträge 2008 der Kunst- und Kulturstiftung Heinrich Danioth

Haus für Kunst Uri; Altdorf, 13. Dezember 2008

 

 

 

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